Es ist Ende Februar. Ich sitze mit drei Freundinnen im El Retiro Park in Madrid. Wir trinken Cava, halten die bleichen Gesichter in die warme Frühlingssonne und schmieden Pläne für das nächste Jahr. Viele sind es, viele Kurztrips, Treffen, Vorfreude auf Nächte mit einer Flasche Wein und langen Gesprächen… Das Beste machen aus der Zeit, bevor ich nach Südafrika ziehe, und ein ganzer Kontinent uns trennt. Zwei kurze Wochen später verändert sich alles. Eine Pandemie. Lockdown in Europa. Geschlossene Grenzen, annullierte Visumsanträge, völliger Stillstand des gesamten Lebens und jeder Reise. Und während die Vorfreude auf geplante Treffen langsam verpufft, liegen auch unsere Auswanderungspläne auf einmal auf Eis.
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Dass wir unsere Wohnung bereits Ende Januar gekündigt hatten, um ab April durch Europa zu reisen, Freunde zu besuchen und ein paar Monate in Bosnien-Herzegowina zu verbringen? Pech! Ende April standen wir auf einmal da, ohne Wohnung und ohne Einreisegenehmigung nach Bosnien – nicht, dass überhaupt Bus- oder Flugverbindungen auf den Balkan existiert hätten. Nach drei Wochen, wohnungslos auf der Couch in der Zwei-Zimmer-Wohnung meiner Mutter, dann die Meldung: Flüge nach Kroatien! Wir sitzen im ersten davon nach Split, sind unter den ersten Menschen, die während einer Pandemie zum Flughafen fahren, in ein Flugzeug steigen – nicht, um Urlaub zu machen, nicht, weil wir ans Meer wollen. Nur, um unserem Zwischenziel Bosnien wenigstens ein bisschen näher zu kommen.
Die drei Wochen Kroatien sorgen für Unmut, Neid – auf Instagram: Seafood Pasta, Sonnenbaden, morgendliche Joggingrunden an der Promenade und Aperol Spritz in leeren Bars. Hinter den Kulissen: eine kleine Airbnb-Unterkunft, in der wir irgendwie versuchen, vernünftig Home-Office zu machen, vier gepackte Koffer, auf denen wir sitzen, bereit jederzeit losziehen zu können und die Angst vor neuen Corona-Restriktionen, die Sorge langfristig in Split festzusitzen. Im Juni öffnet Bosnien seine Grenzen. Wir fahren nach Sarajevo. Endlich wieder ein Bett, eine Wohnung, eine Adresse – wenn auch nur übergangsweise. Inzwischen ist klar: Corona wird bleiben. Auch den Sommer über, auch bis Ende des Jahres. Südafrikas Grenzen sind dicht. Wie lange Bosnien unser Zuhause sein wird? Wir haben keine Ahnung.
ein neues konzept von heimat…
Zuhause… ein Wort, dessen Bedeutung sich für mich in den vergangenen Jahren ständig verändert hat. War es 2014 noch der Ort, an den ich zurückkehre, fühlte es sich 2015 nach Sackgasse an und wurde 2016 schlussendlich zu einem fließenden Konzept, einer Mischung aus einem Ort, Menschen und Erlebnissen. Ich brauchte jedoch bis zu diesem Jahr, um zu begreifen, dass es in Ordnung ist, keine Sehnsucht nach Wurzeln zu haben. Weder nach dem Ort, mit dem ich einmal verwurzelt war, noch danach Wurzeln zu schlagen. Dass es in Ordnung ist entwurzelt zu sein und das als etwas positives zu sehen. Sich stattdessen, wie eine Mistel sich an Bäume bindet, an Menschen zu binden, an Erlebnisse, Gefühle. Ich muss nicht jeden Morgen. Ich muss nicht jeden Morgen im selben Bett aufwachen und aus demselben Fenster sehen. Aber um mich Zuhause zu fühlen, muss ich mit einem besonderen Menschen aufwachen oder mit dem Wissen, dass der kommende Tag etwas Besonderes für mich birgt. Und ob er das tut – diese Entscheidung treffe ich ganz alleine.
Dieser Weg war kein leichter, das entwurzelt sein zu akzeptieren, sich in der Fremde angekommen zu fühlen. Hätte mir jemand 2016 erzählt, dass ich nicht einfach nur nach Südafrika auswandere, sondern mich auf eine Reise begeben werde, die vier Jahre lang dauert – ich hätte zu viel Angst gehabt, den Schritt zu wagen! Heute – bin ich froh, dass die Dinge so passiert sind, wie sie passiert sind. Von Kapstadt nach Prag zu ziehen, nach Hamburg, München und Sarajevo, das war eine Chance, die sich währenddessen nicht so angefühlt hat, im Rückblick aber großartig war. Ich bin dankbar, dass ich in so kurzer Zeit in solch wunderbaren Städten leben durfte, Orte erkunden, aufsaugen und in guter Erinnerung behalten, ihren Zauber mit mir nehmen, wenn ich weiterziehe.
das mädchen das davon rennt
Wenn ich weiterziehe… oder wenn ich weglaufe? „Du kannst doch nicht immer nur weglaufen“, das sagte eine Bekannte zumindest vor einiger Zeit zu mir bei einem Kaffee. „Irgendwann wird es halt mal Zeit, sich niederzulassen und nicht mehr jedem Abenteuer nachzurennen, sondern erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen.“ Was für sie verantwortungslos aussieht, bedeutet dabei für mich aber, volle Verantwortung zu übernehmen. Für mich, für mein Leben, meine Karriere, meine Zukunft. Nicht wegzulaufen, sondern zu etwas hin zu laufen. Nämlich genau dem Leben, das ich mir vorstelle, dass ich aber noch nicht so gefunden habe.
Auch Sarajevo – war nicht dieser Ort. Sechs Monate reichen vielleicht kaum, um das festzustellen, doch sie reichen, um sich zu fragen: Bin ich glücklich? Nicht immer. Zu wenig vielleicht für diesen Ort. Fühlt es sich nach Zuhause an? Sicherlich nicht, zumindest am Anfang. Gegen Ende gewöhnte ich mich daran, so wie Menschen sich an alles gewöhnen und als wir vor 10 Tagen Bosnien verließen, da wusste ich: Diese Stadt, dieses Land, wird von nun an immer ein Teil von mir sein. Diese sechs Monate, gefühlt ein Jahr, habe ich mich verloren, wiedergefunden zwischen Zeilen und auf 1.000 Meter hohen Bergen – und schließlich akzeptiert, dass dieses Jahr ein großes Alles ist. Und ein großes Nichts.
Und jetzt sitze ich hier, es ist der 16. Dezember. Die Flüge für Südafrika sind gebucht, der Corona-Test-Termin vereinbart. Wartemodus – mal wieder. Ohne festen Wohnsitz, ohne Schlüssel zu einem Ort, den ich Zuhause nennen kann. Nichts weiter in der Hand als ein Flugticket, ein Versprechen. Ich sitze auf zwei gepackten Koffern, die ich aus Angst, sie nicht mehr zuzubringen gar nicht erst öffnen mag, pflege seit zwei Wochen mein gesamtes Gesicht mit Augencreme, weil ich meine anderen Kosmetikprodukte nicht wiederfinde und habe den einen Pulli, der nicht eingepackt ist schon zweimal mit der Hand gewaschen.
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Reichlich unglamourös für etwas, das von außen betrachtet vielleicht nach Jetset-Leben aussieht. Chaotisch und planlos würde es wohl eher treffen – und ganz ehrlich, solche Kommentare hätten mich vor einiger Zeit noch getroffen. Aber jetzt nicht mehr. Es stört mich nicht, wenn jemand denkt, ich hätte mein Leben nicht im Griff, mich verurteilt. Denn wer hat denn sein Leben schon im Griff? Es läuft doch ohnehin nur selten nach Plan und wenn es nach einem Plan läuft – wer sagt denn, dass Pläne sich nicht ändern können? Das Leben ist doch ständig im Fluss. Und je früher wir das begreifen, umso leichter können wir entspannt und selbstbestimmt leben und uns nicht um fremde Meinungen kümmern.
Ja, ich bin 2016 nach Südafrika ausgewandert um fünf Jahre zu bleiben – und ein Jahr später habe ich Koffer gepackt und bin mit einem fast Fremden nach Prag gezogen. So what? Hätte es nicht geklappt, wäre ich halt von Prag aus zurück nach Deutschland gegangen.
Ja, unser Plan war es, einige Jahre in Prag zu leben – und ein weiteres Jahr später packten wir wegen eines Jobangebots erneut unser Leben zusammen. Und stellten dann fest, dass wir uns eine Zukunft in Deutschland nicht vorstellen können. Und was ist daran nun so schlimm? Das Einzige, was mich traurig macht, ist, dass ich in diesen zwei Jahren in Deutschland trotz allem nicht mehr Zeit hatte, um mich mit Freunden zu treffen, Menschen zu sehen, die ich liebe.
Ja, wir gehen nun zurück nach Südafrika, um dort dauerhaft zu leben. Ob dauerhaft auch für immer bedeutet – wissen wir nicht, müssen wir aber auch nicht wissen. Denn wir gestalten unser Leben so, wie es uns glücklich macht. Und das ist nicht immer dasselbe. Ich habe Jahre gebraucht und viele Tränen und Veränderungen, um zu begreifen, dass Glück für jeden so unfassbar individuell ist, dass mich niemals genau das glücklich machen wird, das jemand anderen glücklich macht. Und das ist okay. Ich habe jetzt, 2020, andere Bedürfnisse als 2016, sogar als noch zu Beginn des Jahres. Und es ist mein gutes Recht, darauf hinzuarbeiten, mir diese Bedürfnisse zu erfüllen.
bin ich angekommen?
Das ist nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste. Ich darf, wir alle dürfen unsere Meinung ändern, einen Ort wieder verlassen oder eine Person, einen Job kündigen. Wir sind verantwortlich für unsere eigenen Entscheidungen, ja, aber auch für unser eigenes Glück, unser well-being. Und das bedeutet auch, zu erkennen, was nicht gut für uns ist – und es zu ändern, wenn wir können!
Denn das Leben läuft nur selten in geordneten Bahnen – aber wenn es schon eine kurvige Fahrt ist, sollten wir trotzdem den Ausblick genießen können. Nur, weil wir eine Entscheidung einmal getroffen haben – müssen wir daran festhalten, wenn sie sich falsch anfühlt?
Ich weiß, dass ich es nicht tue.