Bosnier sind wirklich überall. Und mit überall meine ich auch überall – ob in Hamburg an den Landungsbrücken, in München auf dem Stachus oder in Kapstadt. Ob in Vancoucer, wo der Schnee meterhoch liegt, in Australien am Strand oder in London, brav aufgereiht und wartend, in die Tube einzusteigen. Die Chance stehen gut, an jedem Ort der Welt, egal wo, jemanden aus Ex-Jugoslawien zu treffen (nicht nur Bosnier, ich spreche hier auch von Montenegrinern, Serben, Kroaten).
Es gibt so viele Auswanderer – rund 1,3 Millionen Bosnier leben im Ausland, das ist ein Drittel der Inlandsbevölkerung von 3,8 Millionen (Quelle: DW) – dass sogar Lieder nur über die bosnische Diaspora gesungen werden. Sie wird in Bosnien selber belächelt, beneidet oder verachtet. Die Gastarbeiter aus den 60ern, die Kriegsflüchtlinge, die einfach in Deutschland blieben und nicht mehr gegangen sind, ihre Kinder, die mit der Identität kämpfen oder die jungen Erwachsenen, die nach dem Bachelor keine Perspektiven gesehen haben, die als Bauarbeiter arbeiten, als Schichtarbeiter, als Altenpfleger.
Und all diese Menschen haben ihre Geschichte. Manche tragischer, manche voller Kriegstraumata. Manche kamen einfach und sind nicht mehr gegangen. Doch eines ist ihnen allen gemeinsam: Heimweh. In Bosnien sind sie deutsch und in Deutschland bosnisch und immer hin und her gerissen. Ständig zwischen den Stühlen.
Und an jedem Ort, an dem sich Ex-Jugoslawier befinden, entwickelt sich eine spannende Dynamik, die ich als Deutscher nicht so ganz nachvollziehen kann, weil wir gerade im Ausland meistens eher froh sind, von den Socken-in-Sandalen-Trägern wegzukommen.
Oder weil es einfach überhaupt nichts Ungewöhnliches ist, irgendwo auf Deutsche zu treffen – bei 80 Millionen ist die Chance nicht nur hoch, wir reisen ja auch alle irgendwie gern an die gleichen Ziele...
Wenn Ex-Jugoslawier aufeinandertreffen, läuft das ein wenig anders ab. Und obwohl es viel weniger gibt, als Deutsche, passiert es ständig. Sie ziehen sich nämlich an, wie Schnaken auf eine Neonleuchte zufliegen – mit einer immer wieder überraschenden Zuverlässigkeit. Selbst, wenn es an einem Ort mit fünf Millionen Menschen nur vier Bosnier gibt, sie werden sich finden. Ich spreche aus Erfahrung, ich habe es in Kapstadt selbst erlebt. Und vermutlich gibt es dort wirklich nicht mehr als diese vier.
Sie werden sich finden, unwiderruflich anziehen, und es dann schaffen, bosnische Musik zu hören, Bajram mit typisch bosnischem Essen zu feiern (wo es herkommt… irgendwie ergibt es sich immer so, dass etwas da ist und man kann es nicht verstehen, aber es ist so) und so laut zu sprechen, dass jede andere Kultur ihnen strafende Blicke zuwirft.
Ich glaube, dass diese Fähigkeit, sich immer und überall finden zu können eine ganz wichtige Basis des Überlebens der bosnischen Kultur ist. Und je öfter ich es bemerke, um so sicher bin ich mir, dass nur diese Eigenschaft es schafft die Diaspora so eng an die Heimat zu binden – obwohl sie abgelehnt werden oder strampeln, um diese Fäden abzuschütteln.
Aber nicht nur das. Es ist auch so: Einer fährt immer in die Heimat und einer kommt immer zurück und so ensteht durch dieses Sich-Finden-Können ein steter Fluss von Geld und Waren, von Suđuk und Ajvar (und vielleicht die Erklärung dafür, dass Bajram immer mit allem wichtigen gefeiert werden kann), von Schinken, Baklava und gefälschten Designer-Schuhen, der sich pausenlos über die Knotenpunkte Wien und München bewegt. Da werden Pakete mit dem Busfahrer geschickt oder der Bekannte der Schwester eines Freundes eines Facebook-Freundes fährt den neuen Golf für die Familie mal kurz auf den Balkan runter.
Überhaupt vergeben Bosnier schnell und sehr ehrlich und vorbehaltlos ihre Freundschaft. „Jarane“ – „Freund!“ ist ein Wort mit dem jeder angesprochen wird, den man seit fünf Minuten kennt und der auch irgendwo vom Balkan kommt (zumindest in vielen Fällen, aber um irgendwelche Streitigkeiten und ethnische und politische Verwerfungen zu verstehen, bin ich einfach zu sehr Deutsche und vielleicht werde ich irgendwann einmal davon schreiben, aber nicht heute).
Freunde sind Menschen auf Facebook, die man noch niemals persönlich getroffen hat. Freunde sind Bekannte, die man zum ersten Mal sieht, Freunde sind die Kinder der ältesten Freunde der Eltern, die man im Sandkasten zum letzten Mal gesehen und dann noch ein oder zwei Mal neugierig auf Facebook gestalked hat.
Das ist mir als Deutsche ein ziemlich verwirrendes Konzept. Wenn mein Mann sich mit einem Freund trifft, wenn wir gestern umgezogen ist, dann verliere ich schon mal den Faden, welcher Freund denn zufällig in der Stadt ist, bis ich begreife, dass es nur eine Bekanntschaft aus einer Facebook-Gruppe ist, irgend so ein Typ, der mal mit dem Daumen hoch kommentiert hat.
Denn für uns ist Freundschaft ja schließlich ein ernsthaftes Konzept und „Freund“ eine Auszeichnung, die nicht leichtfertig vergeben wird. Und schon gar nicht an jemanden aus dem Internet, da sind wir misstrauisch.
Natürlich bergen diese Gruppen, die sich mit einer mir unerklärlichen Dynamik bilden, für mich auch einige Herausforderungen. Die größte unleugbar: Die bosnische Sprache.
Denn egal wie lange sich die unterschiedlichen Gruppenmitglieder schon in Deutschland befinden und ob sie hier aufgewachsen sind oder erst vor kurzem stolz ihre Aufenthaltserlaubnis im Portemonnaie tragen, egal wie gut ihr Deutsch ist, je mehr sich die Dynamik der Gruppe entwickelt, umso geringer wird der deutsche Wortschatz und umso mehr wird auf Bosnisch gesprochen.
Das ist spannend zu beobachten. Es beginnt immer mit einem Ausruf – überrascht, lobend, anerkennend, fassungslos – der jemandem einfach in Deutsch nicht in der gleichen Resonanz über die Lippen kommen kann.
Und dann macht das Gespräch eine spannende Entwicklung durch.
Wenn die Stimmen immer lauter werden und sich die Leute immer mehr vorbeugen, wenn sie sprechen. Wer Bosnier schon mal beim Reden gesehen hat, der wird bemerken, dass sie eine ganz andere Art als Italiener haben, sich zu artikulieren. Sie benutzen dazu weniger ihre Arme und Finger. Sie versuchen stets, sich gegenseitig durch Lautstärke zu übertönen.
Wer am lautesten spricht, dem wird solange zugehört, bis jemand anderes etwas Lauteres sagt – oder am besten einen Witz erzählt. Dann wird gelacht. Überhaupt werden sehr oft Witze gemacht. Schwarzer Humor und Wortspiele, habe ich mir sagen lassen. Verstehen kann ich sie nicht und erklären lassen sich Witze gleich dreimal nicht, so bekomme ich nur mit, dass viel gelacht wird. Und auch, wenn ich die Scherze nicht verstehe – wie könnte ich mich nicht wohlfühlen unter einer Gruppe Menschen, die so gute Laune versprühen.